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Im Staat, den es nicht gibt

Auf den Seiten des Auswärtigen Amtes liest man über die Einreise nach Zypern über Flug- oder Seehäfen im Nordteil:

„Die zyprische Regierung betrachtet die Nutzung der See- wie auch der Flughäfen im Norden der Insel grundsätzlich als strafbare illegale Einreise.“

Wobei mit der zyprischen Regierung hier natürlich die Regierung gemeint ist, die den Südteil der Insel verwaltet, denn im Norden gibt es dann ja noch, wie das Auswärtige Amt weiter ausführt „die „Behörden“ des nicht unter effektiver Kontrolle der Regierung der Republik Zypern stehenden Nordteils der Insel (sogenannte „Türkische Republik Nordzypern“)“.


Eine Menge Gänsefüßchen und Umschreibungen für eine politische Situation, in der sich die Insel seit 1974 befindet. Zypern ist in vier Zonen unterteilt:

  1. Der Süden, die tatsächliche Republik Zypern, zur EU gehörig seit 2004.

  2. Mehrere britische Enklaven im Südteil, zu Großbritannien gehörig, Relikt der britischen Kolonialzeit.

  3. Die von der UN kontrollierte Pufferzone, die sog. Green Line, die die Insel komplett einmal in der Mitte durchteilt, hier ist Betreten verboten – angeblich ist sie auch noch vermint.

  4. Der Norden, völkerrechtlich ein Teil der Republik Zypern (siehe 1) aber de facto von der türkischen Regierung kontrolliert und laut Türkei ein eigenständiges Land, nämlich die „Türkische Republik Nordzypern“ – allerdings als solche nur von der Türkei anerkannt.

Von Maximilian Dörrbecker - Eigenes Werk mittels: this file by NordNordWest, CC BY-SA 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74469548

Man sieht also, Zypern ist ein kompliziertes Gebilde mit schwerwiegenden Altlasten von Besetzung, Krieg und Vertreibung. Der Norden hängt dabei rechtlich irgendwo in der Schwebe zwischen dem was er ist und dem was er sein sollte. Und Lutz und ich befinden uns auf einem Schiff von Mersin an der türkischen Küste nach Famagusta im türkischen Nordteil Zyperns, also steht sie uns nun bevor, die „grundsätzlich als strafbare betrachtete illegale Einreise.“


Die Hölle ist eine Fähre


Doch bevor es so weit ist, müssen wir erst einmal eine fürchterliche Nacht auf der Fähre überstehen. Das Schiff ist nämlich eine reine Frachtfähre, ölig, stinkig und rostig – aber die einzige Möglichkeit, von Mersin nach Zypern zu kommen. Unzählige LKW bringen auf ihr dringend benötigte Waren nach Nordzypern – da kein Land der Welt außer der Türkei Nordzypern als eigenständiges Land anerkennt, treibt auch niemand Handel oder macht Geschäfte mit dem Norden. Daher muss alles aus der Türkei eingeführt werden und das eben auch mit den Lastwagen auf unserer Fähre.



Für die Fahrgäste, die die Nacht nicht gemütlich in der Fahrerkabine hinter dem Lenkrad verbringen können, gibt es auf der Fähre einen einzigen eng bestuhlten Raum. Schmale Sitze mit steilem Rückenteil, alle Sitze haben zusätzlich Armlehnen an beiden Seiten. Damit ist sichergestellt, dass man weder besonders bequem sitzen kann, geschweige denn sich über mehrere Sitze hinweg ablegen. Die mit uns etwa 30 Fahrgäste rotieren in der Nacht von einer miesen Option zur anderen. An Deck ist es zu kalt auf dem offenen Meer, es weht ein mächtiger Wind. In den Sitzen ist es furchtbar unbequem, außerdem taghell und es läuft die ganze Nacht laut türkisches Fernsehen. Ich versuche es seitlich, geknickt und über mehrere Sitze verteilt. Nach zwei Stunden tut mir jeder Knochen im Leib weh und übel ist mir auch vom Rollen und Stampfen auf dem offenen Meer. Gegen drei Uhr morgens suche ich mir dann eine halbwegs windgeschützte Stelle draußen auf dem schmutzigen Deck und lege mich in meiner Verzweiflung auf den Boden, zwischen Zigarettenkippen und Ölflecken. Lutz streckt sich derweil unter den Sitzen auf dem Boden aus, wo es tatsächlich sogar noch dreckiger ist als draußen an Deck. Unsere türkischen Leidensgenossen (klar, wir sind die einzigen Ausländer hier) verteilen sich ebenfalls auf Stühlen und dem Boden, wo eben noch ein Fleckchen frei ist.




Eine entspannte und erholsame Nacht erlebt hier keiner, also sind alle froh, als wir am kommenden Morgen mit mehr als zwei Stunden Verspätung und insgesamt über 12h Fahrzeit endlich in Famagusta auf Zypern ankommen. Unsere „illegale Einreise“ verläuft hier im türkischen Teil der Insel angenehm ereignislos – schließlich reisen wir aus der Türkei in die türkische Republik Nordzypern, wo soll da das Problem sein? Nach einer halben Stunde trotten wir an der steinernen Festungsmauer von Famagusta entlang zu unserer Unterkunft.


Famagusta




Famagusta, oder türkisch Gazimagusa, hat eine lange Stadtgeschichte, geprägt von dem ewigen politischen Hin- und Her, das wir von den meisten Städten am Mittelmeer bereits kennen. Jede Kultur der Mittelmeeranrainer durfte Famagusta über kurz oder lang ihren Stempel aufdrücken – die Griechen, die Phönizier, die Römer, die fränkischen Kreuzritter, die Venezianer und die Osmanen, um nur ein paar von ihnen zu nennen. Zurück blieb also ordentlich alte Bausubstanz. Die gesamte Innenstadt von Famagusta ist von einer bis heute intakten venezianischen Festungsmauer mit Wehrtürmen umgeben. Die Altstadt ist dazu noch gespickt mit gotischen Ruinen, meist Kirchen unterschiedlicher christlicher Strömungen, die meisten in variierenden Stadien des Zerfalls, zwei wurden allerdings zu Moscheen umfunktioniert.



Die gotische Moschee


Wir besuchen die Hauptmoschee der Stadt, ehemalige St. Nikolaus Kathedrale von 1370, und ich staune über das völlig veränderte Raumgefühl im Inneren. Die gotischen Strukturen sind mir extrem vertraut, aber ungewöhnlich ist es, in dem hohen, lichten Raum barfuß auf Teppichboden zu stehen. Sämtliche Bilder, Statuen, Buntglasfenster und Fresken wurden entfernt, figürliche Darstellen auch von der Fassade abgeschlagen, die Kathedrale ist gänzlich leer und in schlichtem Weiß verputzt. Durch den Teppich gibt es keinen Hall im großen Kirchenschiff und es stellt sich fast eine Art Wohnzimmergefühl ein, wäre da nicht die meterhohe gotische Spitzbogendecke.



Die ungenutzten Kirchen Famagusta zerfallen derweil in Ruhe vor sich hin, wenn sie nicht anderweitig genutzt werden, als Gemeindezentrum oder Bar. Manche sind auch mit drolligen Beschreibungen versehen – wer hier die Erklärtexte zu den historischen Monumenten geschrieben hat, hatte entweder nicht den Funken einer Ahnung oder viel Humor- oder beides.



Dramatische Ereignisse der neueren Vergangenheit


1571 eroberten die Osmanen Famagusta als letzte zyprische Festung, verpachteten Zypern jedoch ab 1878 an Großbritannien. Dem Empire gefiel die Insel offensichtlich so gut, dass sie sie 1914 annektierten, was nach dem ersten Weltkrieg dann rückwirkend auch völkerrechtlich anerkannt wurde – also war Zypern nun offiziell eine englische Kronkolonie.


Die griechischen Zyprer (75% der Bevölkerung der Insel) wollten allerdings lieber ein Teil Griechenlands werden, es begann ein blutiger Kampf gegen die Kolonialisten aus dem Untergrund, in dem sich das englische Militär nicht gerade mit Ruhm bekleckerte und auch die Queen nicht zurückschreckte, minderjährige Widerstandskämpfer am Galgen hinrichten zu lassen – daher ist sie bis heute auf Zypern nicht willkommen. 1960 erreichten die Zyprer ihre Unabhängigkeit von England – friedlich wurde es aber leider nicht.


Im "national struggle museum" in Nikosia Süd - viel Information zum Freiheitskampf der Zyperngriechen, kein Kommentar zur Behandlung der Zyperntürken


Zyperngriechen und Zyperntürken gerieten aneinander, die gemeinschaftliche Verwaltung funktionierte nicht. Es kam zur Verfolgung und Massakern an der türkischen Minderheit durch fanatische griechische Zyprioten, die nach wie vor am liebsten zu Griechenland gehören wollten und die türkische Minderheit auf der Insel gerne losgeworden wären. Nach einem besonders heftigen Massaker an den Zyperntürken 1963 wurde die Gemeinschaftsregierung abgeschafft, die Türken ballten sich in Enklaven zusammen und verloren ihr Mitspracherecht in der Verwaltung.


1974 explodierte das Pulverfass schließlich, die fanatischen Zyperngriechen putschten mit griechischer Militärunterstützung gegen die unabhängige zyprische Regierung mit dem Ziel des Anschlusses an Griechenland. Die Türkei intervenierte und besetzte das nördliche Drittel der Insel. Und dann kam es zur großen Umschichtung: die Griechen wurden aus dem Norden vertrieben, die Türken aus dem Süden, praktisch wurden alle enteignet, ganze Landstriche entvölkert, Häuser geplündert, Gebiete abgeriegelt und von Militär besetzt, die Insel wurde in der Mitte durchgeteilt.


Die große Leere


Und so ist es bis heute geblieben. Vor allem in Nordteil bemerkt man das am Leerstand gefühlt jedes zweiten Gebäudes. Natürlich hat auch die Coronazeit hier wirtschaftliche Verwüstung hinterlassen, aber die vielen Hausruinen stehen schon deutlich länger leer - vermutlich gehörten sie Zyperngriechen, die in den Süden umgesiedelt wurden. Da sie damals auch im Norden die Mehrheit der Bevölkerung stellten, konnte der Leerstand nicht durch die einwandernden Zyperntürken aus dem Süden ausgeglichen werden.




Auch der von der Türkei eifrig geförderte Zuzug aus Anatolien kann die Lücken kaum füllen. Und die zigtausend türkischen Soldaten, die den Status quo im Norden erhalten sollen, ballen sich in den großen Militärbasen. Trotzig wehen hier überall zwei Fahnen: die türkische mit dem weißen Halbmond auf rotem Grund und die höchst kreative von Nordzypern: roter Halbmond auf weißem Grund. In den Bergen nahe Nikosia sind beide Fahnen in gigantischen Maßen auf einem Berghang verewigt, den man, wie wir später feststellen, vom Südteil der Insel auch ausgesprochen gut sehen kann. Von türkischer Seite ist eindeutig keine Annäherung an den griechischen Süden erwünscht.


Fahnen überall, und immer im Doppelpack - auf einer Festung bei Girne (Kyrenia) und an der Festung von Famagusta


Das beste aus beiden Welten


Und die Zyperntürken? Die scheinen sich mit der Situation arrangiert zu haben. Unser Vermieter in Famagusta kommt aus einer türkisch-zypriotischen Familie – der Vater aus Famagusta, die Mutter aus Limassol im Süden. Zu dritt verwalten sie ein Café und mehrere Ferienwohnungen im Norden und scheinen recht zufrieden. Zyperntürken dürfen auch, anders als die eingewanderten Türken aus Anatolien, die Green Line jederzeit überschreiten – sie besitzen nämlich einen Pass der Republik Zypern. So bietet es sich für viele von ihnen an, im Süden zu arbeiten und nach EU-Standard entlohnt zu werden, aber im Norden zu wohnen und dort von dem deutlich niedrigeren Preisniveau zu profitieren.


Touristik in der Militärwüste


Eine besonders merkwürdige Folgeerscheinung des Inselkonfliktes kann man in Varosia, einem Stadtteil von Famagusta, erleben. Seit 1974 besetzt das türkische Militär den gesamten Stadtteil, der einmal das Zentrum des Strandtourismus auf Zypern war. Doch die Häuser und Hotels gehörten alle Zyperngriechen, die vertrieben wurden, nun steht hier seit 50 Jahren alles leer, der ganze Stadtteil ist abgeriegelt und wird vom türkischen Militär kontrolliert.


Das ungewöhnliche ist nun aber, dass man die Geisterstadt mittlerweile wieder besuchen darf. An einem zentralen Kontrollpunkt darf man durch eine militärische Sperre hindurch und sich Fahrräder leihen, die ähnlich marode wie die Gebäude der Stadt sind. Mit den Leihrädern darf man dann auf den Straßen Varosias die Geisterstadt erkunden. Zu diesem Zweck hat das Militär die Straßen erneuert und die verfallenen, zugewachsenen Hausruinen mit Tauen provisorisch abgesperrt. Man sieht es aber selber ein, dass man die baufälligen Betonklötze nicht betreten sollte.



Also fahren wir vorbei an leerstehenden Hotels und Restaurants, die teilweise noch die Schilder und Werbetafeln aus den frühen 70er Jahren präsentieren. Hin und wieder lässt ein Windstoß einen Fensterladen auf- und zuschlagen. Ansonsten ist es überall nur öde und leer und die Vegetation wuchert ungebremst die Hausruinen zu. Irgendwann kommen wir auch an den Strand, der absurderweise ebenfalls wieder für Touristen geöffnet ist – es gibt sogar eine zeitgenössische Strandbar. Und so gehen wir baden im türkisblauen Wasser vor einer Kulisse von zerfallenden Hotelruinen, die dicht an dicht die Küste der Geisterstadt säumen.



Das Meer ist hier ganz klar und sauber, der Strand mit feinem Sand bedeckt – ein Traum für die grüne Meeresschildkröte, die vermutlich als einzige von dem zyprischen Konflikt profitiert. Hier kann sie ungestört ihre Eier ablegen. Die wenigen Tagestouristen in der Geisterstadt machen ihr nur winzige Bereiche des kilometerlangen Strandes streitig.



We walk the line


Wirtschaftlich ist der Norden abhängig von der Türkei, der es bekanntlich mit ihrer Hyperinflation nicht gerade blendend geht und so sieht man Hausruinen und aufgegebene Geschäfte en masse, in vielen Teilen der Nordinsel ergibt sich ein trauriges Bild. Besonders plastisch erlebt man die Folgen der Trennung, wenn man in der Hauptstadt Nikosia von der türkischen auf die griechische Seite überwechselt.




Wir verbringen einige Tage auf der türkischen Seite von Nikosia, wo wir die meiste Zeit unter der enormen Hitze ächzen und uns quasi von Eiskaffee ernähren. Dann beschließen wir, die Seiten probeweise zu wechseln. Mitten in der Stadt verläuft die Green Line und es gibt einen Fußgängerübergang in der Ledra Street – einer Straße die von Norden nach Süden durch beide Teile der Stadt verläuft. Aufgeregt nähern wir uns also der innerstädtischen Grenze. Wird es nun Probleme geben mit unserer illegalen Einreise in die EU…?


Der türkische Grenzposten winkt uns durch, nun laufen wir durch die hier nur wenige 100 Meter breite UN-Pufferzone zwischen den zwei Teilen Nikosias, alles ist leergefegt, Hausruinen auf beiden Seiten, dann gelangen wir zum griechisch-zypriotischen Grenzposten. Und es folgt – wieder kein Drama. Ein kurzer Scan unserer Ausweise und schon stehen wir auf der griechischen Seite, sind wieder in der EU – und mitten in der Shoppingzone von Nikosia, wo sich die Läden der bekannten Marken aneinanderreihen.




Der Kontrast zum türkischen Nordzypern könnte kaum größer sein. Internationale Ladenketten verkaufen all den Krempel, den eigentlich keiner braucht, Fast Food- und Kaffeeketten, die man aus der ganzen Welt kennt, stehen dicht an dicht. Eben eine normale europäische Fußgängerzone. Auf der Nordseite war ja bekanntlich jedes zweite Haus eine Ruine und die Läden alle lokal und wenig schick, denn keine internationale Firma macht Geschäfte mit Nordzypern. Viele Produkte sucht man daher im Norden auch vergebens – Restaurants mit internationaler Küche gibt es beispielsweise nicht. Kebab, Pide, Lahmacun – was braucht man schon mehr? Hier in Südzypern umschließt uns wieder das riesige Angebot und der gewohnte Kommerz und nach mehreren Wochen ohne diesen Komfort freue ich mich schon etwas über die Boten der globalisierten Welt.


Am Nachmittag schleusen wir erneut unbehelligt zurück in den türkischen Norden und lassen den Tag so ausklingen, wie es nur hier möglich ist: Wir sitzen im Norden Nikosias, in dem Staat, den es nicht gibt, und trinken geeiste Limonade an einer Balustrade mit Blick auf die UN-Pufferzone und dahinter auf den griechischen Südteil Zyperns, also auf die EU, während hinter uns die türkische Jugend ihre Motoren an der Promenade aufheulen lässt, so als wollten sie alle drei Zonen beeindrucken.



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