Sophie
Impfen impossible?
Eine Aventüre* in X Kapiteln
*Die âventiure [...] ist nicht mehr willkürliches Geschick, das dem Helden zustößt, sondern eine von ihm aus eigenem Antrieb gesuchte und durch wunderbare Fügung für ihn allein bestimmte gefahrvolle Bewährungsprobe.
(Lexikon des Mittelalters(LexMA). Band1. Artemis & Winkler, München/Zürich 1980)

Ein kleiner Hinweis am Anfang: Dieser Artikel entfaltet wahrhaft epische Breite. Wer unsere (Leidens)geschichte nicht so genau ergründen möchte, der nehme lieber Abstand und gönne sich einen der kommenden Beiträge, der dann wieder bildlastiger und fröhlicher wird.
Prolog in Deutschland
Freiburg im grauen November, Lutz und Sophie wollen sich gerne zum dritten Male impfen lassen, allein ihre Ärzte wollen dies nicht. Da beide Mitte-Ende Juli zum zweiten Mal gegen Covid-19 geimpft worden waren, so waren im November die damals erwünschten sechs Monate vor dem erlösenden „Booster“ noch nicht vergangen. Also reisten die beiden denn nur doppelt vakziniert in die weite Welt hinein. Dies Versäumnis sollte sich alsbald rächen.
Erstes Kapitel: Recherchen in Rom
Da wir in Rom nahe des Hauptbahnhofs wohnten, der mit dem größten Impfzentrum Roms aufwarten konnte, spazierten wir dort eines Tages vorbei, um uns ganz zwanglos nach einer möglichen Drittimpfung zu erkundigen. Man sagte uns, wir sollten einfach mal an einem Abend spät wiederkommen oder eben einen Termin vereinbaren. Wie nett, dachten wir, das machen wir doch mal, packten die Impfausweise ein und strebten am Abend noch einmal zu dem großen weißen Behelfszelt vor dem Bahnhof, gleich neben den Bäumen, in denen sich nun zum Sonnenuntergang gerade abertausende Vögel mit großem Geschrei niederlassen wollten. Ergebnis dieses Besuches: eine Abfuhr, man spreche kein Englisch, wir sollten gehen, wir bräuchten einen Termin, gratis gab es noch einen Vogelschiss auf der Jacke, e basta.
Bei dem Versuch, einen Termin zu vereinbaren wurde uns dann klar, dass das alles durchaus nicht so einfach werden würde: Für die Terminvereinbarung braucht man eine italienische Steuernummer (einen codice fiscale) – ohne die sei es nicht möglich. Wir glaubten es nicht. Doch deutsche Bekannte in Rom, ein ansässiger deutscher Arzt und zuletzt auch noch die deutsche Botschaft bestätigten es uns: ohne codice fiscale kein Impftermin.
Lächerlich, dachten wir, so ein Unsinn, eine italienische Steuernummer bei einem Amt zu beantragen nur für einen Impftermin! Abwegig, das machen wir natürlich nicht. Unsere Zweitimpfung wurde in Italien für 9 Monate als gültige Immunisierung akzeptiert, das wäre eine Gültigkeit bis April – bis dahin sind wir über alle Berge, schon längst in einem anderen Land, dachten wir. In diesem anderen Land würden wir uns ganz unproblematisch impfen lassen, denn jedes andere Land wäre sicherlich vernünftiger, als eine Steuernummer für eine Impfung einzufordern.
Zweites Kapitel: Die Spielregeln ändern sich
Kurz vor Silvester las ich es dann im Zug nach Neapel: Die italienische Regierung verkürzte die Gültigkeit der Zweitimpfung auf 6 Monate, danach gelte man als ungeimpft – was in einem Land mit durchgängiger 2G-Regelung das Leben recht abenteuerlich macht.
Damit waren unsere Impfungen also nur noch bis Mitte-Ende Januar gültig. Hallo? Das waren ja nur noch etwa drei Wochen! Jetzt wurde es also interessant.
Dann mussten wir eben schneller in dieses flexible nächste Land, in dem das Impfen dann ganz unproblematisch funktionieren würde. Malta hatten wir als nächstes Ziel ohnehin im Kopf. Insel, Sonne, Meer – Vakzine? Nix da, Impfen nur für Malteser. Ok, also nicht nach Malta. Dann eben rüber nach Griechenland! Griechenland? Möchte eine griechische Steuernummer UND eine Sozialversicherungsnummer. Beides muss erteilt sein, bevor man einen Impftermin vereinbaren kann. Uff.
Sollten wir am Ende etwa tatsächlich nach Deutschland zurückreisen müssen, nur um uns dort eine einzige Spritze geben zu lassen? Da wir uns vor der Reise dort abgemeldet hatten sind wir aber lustigerweise in jedem Land krankenversichert, nur eben nicht in Deutschland.
Na gut, zurück an den Anfang: Wie schwierig ist es denn eigentlich, an so eine italienische Steuernummer heranzukommen?
Drittes Kapitel: An die Küste für den codice fiscale
„Neapel: nächster Termin erst am 17. Januar. Mist, da ist deine Impfung schon abgelaufen…Da bei Pompeji – ach, auch erst am 16. Januar. Hier: Maiori, da gibt es noch einen Termin, direkt morgen, am 30.12. Den buch ich gleich!“
Lutz hatte Erfolg bei seiner Suche nach einem amtlichen Termin zur Beantragung des ersehnten codice fiscale. Das gesamte neapolitanische Verwaltungsgebiet war terminlich schon völlig ausgebucht. Ganz Neapel? Nein, ein winziger Ort am äußersten Rand des Bezirks hatte noch freie Termine für uns. Die buchten wir also sofort und stellten fest, dass damit der Tagesplan praktischerweise auch schon feststand. Wir standen um 7 Uhr auf (das hatten wir seit einem Monat nicht mehr getan), schlichen uns aus unserem 6-Bett-Zimmer im Hostel und machten uns auf zu einer kleinen Odyssee mit verschiedenen Bussen, die über zwei Stunden dauerte und uns quer durch das Stadtgebiet von Neapel, am Vesuv vorbei und schließlich über die Hügel führte, die die amalfitanische Küste vom restlichen Land abschirmen.

So standen wir kurz nach 10 parat für unsere Termine im winzigen Amt des Ortes Maiori. Eine ruppige Empfangsdame, ein Tresen, ein Raum, den wir allerdings nicht betreten durften. Unsere Formulare füllten wir halb im Gebäude, halb auf der Straße aus. Die Frau sprach natürlich kein Englisch, wir nach wie vor kein Italienisch, die Stimmung war entsprechend durch die beidseitige Verzweiflung (die Dame verzweifelt ob der zwei Barbaren, deren Absichten völlig unklar waren, wir verzweifelt entschlossen, diese verdeckelte Steuernummer zu bekommen) ein wenig angespannt.

Aber es glückte: unsere miesen Ausweiskopien und zu einem Viertel ausgefüllten Formulare wurden akzeptiert und umgewandelt in jeweils eine wunderschöne Zeichen- und Zahlenfolge, die uns potentiell die Türe zur Drittimpfung öffnen würde: unser italienischer codice fiscale, wir hatten ihn!
Zu unserem Glück liegt Maiori dann auch noch am Meer und wir sonnten uns am Strand und beglückwünschten uns zu unserer Tatkräftigkeit, die uns hier zum Erfolg geführt hatte.
Viertes Kapitel: Impfwilligen-Marathon quer durch Neapel
Lutz hatte uns ein besonderes Schmankerl in Sachen Impfzentrum herausgesucht: ein Zelt in einer Parkanlage mit Museum weit über der Stadt, man wird dort geimpft und darf dann noch 15 Minuten in der Gesellschaft von Barockgemälden abwarten. Klang fantastisch, wir fuhren morgens mit einem der klapprigen Stadtbusse in einer halben Stunde hoch auf den Hügel namens Capodimonte. Dort durchquerten wir die weitläufige Anlage, fanden nach einer weiteren halben Stunde das Zentrum und kamen an der ersten Polizeiwache vorbei, indem wir wild mit unseren neuen codice fiscale – Papieren vor ihren Gesichtern herumfuchtelten. Wir wähnten uns am Ziel, reichten fröhlich Impfpass und Steuernummer über den Tresen der Anmeldung.
Leider scheiterten wir dann an der Verteidigungslinie der freundlichen Impfhelfer, die uns auf Italienisch deutlich klarmachten, dass es so nicht weiterginge mit uns. Wir hätten zwar den codice fiscale, aber wüssten wir denn nicht, dass wir einen italienischen Hausarzt bräuchten? Und natürlich noch eine ENI Nummer, die hätten wir uns beim ASL in der Stadt organisieren müssen. Mensch, das weiß man doch. Ein Wachmann eskortierte uns an den Impfkabinen und dem Warteraum/der Gemäldegalerie vorbei zum Ausgang.

So stiegen wir also herab vom Berg, ohne zu wissen, was es mit dem italienischen Arzt und der kryptischen ENI Nummer auf sich hatte. Auch aus der Abkürzung ASL wurden wir zwar nicht schlau, fanden aber dank Tante Google das Büro in einem Wohnhaus fünf Laufminuten von unserem Hostel entfernt.
Dort machte man uns (diesmal auf Spanisch, denn mein Spanisch ist immer noch deutlich besser als mein Italienisch) klar, dass das mit der ENI Nummer nicht relevant sei. Wir sollten doch einfach zu jenem anderen Impfzentrum bei der Kirche der Allerheiligsten Annunziata gehen, dort impfe man alles, was den Herrschaften vor die Spritze laufe, das Zentrum sei auch noch bis 19 Uhr geöffnet. Und ganz nah, nur noch 20 Minuten zu Fuß durch die Innenstadt.

Es war mittlerweile Nachmittag, wir waren seit Stunden auf den Beinen und schon zwei Mal quer durch die ganze Stadt gefahren und gelaufen, warum also kein drittes Mal? Sehr gerne doch, zur werten Santissima Annunziata, wo dann statt von Nächstenliebe beseelter Nonnen erneut Wachleute auf uns warteten, um uns mitzuteilen, dass man heute natürlich nicht mehr impfen würde. Wir sollten ein andermal wiederkommen. Morgen? Nein, da sei zu. Übermorgen? Auch nicht. Aber am 3. Januar, da sollten wir kommen. Ich fragte noch, ob man uns da ganz sicher impfen würde, so ganz ohne ENI. Ja natürlich, wir bräuchten nur den Impfpass, dann würde das alles klappen.
Fünftes Kapitel: Sechs schwarze Stunden
Alle waren sie da am 03. Januar: die schwarzafrikanischen Migranten, die Neapolitaner zu Fuß, mit dem Auto, mit dem Motorrad, konstant am Telefon, von edel gekleidet bis abgerissen, ja und wir. Wir waren auch da, vor dem Tor des Allerheiligsten Maria Annunziata und zogen eine Nummer, auch so wie alle.
Und dann warteten wir, wie alle, warteten eine Stunde, warteten zwei Stunden. Um uns brauste der Verkehr, Motorräder, Autos, Krankenwagen wollten durch die verstopfte Straße, hinein in das von Impfwilligen belauerte Tor, ein Gedränge und Gehupe. Wir warteten drei Stunden. Etwa einmal pro Stunde wurden von den geduldigen Wachleuten die neuen Nummern ausgerufen, alle hofften und bangten, diesmal dabei zu sein. Wir froren, traten von einem Fuß auf den anderen. Wir warteten vier Stunden. Wir gingen Kaffee trinken gegenüber vom Tor, lauerten, warteten, trauten uns nicht uns zu entfernen. Warteten fünf Stunden.

Dann kamen unsere Nummern an die Reihe. Wir durften hinein in die Klinik, hier löste sich der Putz von der Wand, wir durften erneut warten, diesmal in der Kinderabteilung, warten bis unsere Nummern erneut aufgerufen wurden. Warteten noch einmal eine halbe Stunde.
Zuletzt durften wir zum Empfang. Wir hielten den Impfpass hin, hielten den codice fiscale hin. Die Dame tippte den codice ein. Stutzte. Schaute auf. Der codice funktionierte in ihrem System nicht. Warum? Naja, das übliche, kein italienischer Arzt, keine ENI Nummer, kein nix. Woher wir denn diese falsche Information hätten, dass man hier ohne ENI impfen würde. Tja, aus dem Büro, dass die ENI vergibt, sagten wir. Aber nicht an uns. Sie könne uns da auch nicht helfen, sagte die Dame. Hier würde man doch auch Ungemeldete und Migranten impfen, sagten wir. Ja sagte sie, arme Leute würde man hier impfen. Wir sind auch arme Leute, sagte Lutz.
Und ja, wir waren wirklich arme Leute. Denn nach sechs Stunden mussten wir auch dieses Impfzentrum wieder verlassen und wieder ohne Impfung.
Der Zwischenstand:
Am italienischen Gesundheitssystem hatten wir uns die Zähne ausgebissen. Wir kapitulierten und schmiedeten neue Pläne: statt nach Deutschland zurück zu reisen, wollten wir unser Glück nun doch in Griechenland versuchen. Dort wären wir nämlich nicht alleine im Ring mit den Behörden sondern hätten einen erfahrenen Helfer.
Aber dazu mehr in einem folgenden Beitrag – dann werden wir selber auch erfahren, wie viele Kapitel diese Aventüre haben wird und wie sie endet.
