Sophie
In Reih und Glied: Kappadokien
Es geht ins Landesinnere, nach Zentralanatolien. Doch bevor wir diese anregenden Gebilde hier sehen dürfen, reisen wir erst einmal durch das konservative Herz Anatoliens.

Auf dem Weg von Antalya nach Konya bin ich tatsächlich etwas aufgeregt. Zum ersten Mal verlassen wir die türkische Küste und fahren ins Landesinnere hinein, nach Zentralanatolien. Schon nach wenigen Kilometern wird die Landschaft bergiger und die Siedlungen spärlicher. Nach sechs Stunden Fahrt durchs Gebirge und über eine staubige Hochebene erreichen wir Konya.
Konya
Mustafa Kemal, seit 1934 noch dazu Atatürk (Vater der Türken), Gründer und erster Präsident der Republik Türkei, Abschaffer von Sultanat, Kalifat, arabischer Schrift und dem Turban, Verfechter des Laizismus, der Frauenrechte und des Alkoholkonsums – sein Bild hängt überall in der Türkei, in jedem Geschäft, jedem Bus, jedem Büro, seine Statuen stehen in allen Städten, meist in Gold, und die Hauptstraße heißt überall nach ihm. In Konya ist das zum ersten Mal anders.
In Konya hängen keine Atatürks an den Wänden, dafür gibt es jede Menge riesige Moscheen und der Muezzin singt hier besonders viele zierenden Schleifen hinein in seinen Ruf zum Gebet. Anders als in den Küstenstädten tragen die Frauen so gut wie alle Kopftuch, die meisten Kopftuch und einen sackartigen Überwurf mit langen Ärmeln, der bis zum Boden geschlossen ist (Abaya genannt). Hin und wieder sieht man auch Niqabs, also Gesichtsschleier, die nur noch die Augen freilassen. Und manch eine Dame trägt auch noch bei 30 Grad schwarze Handschuhe, womit dann kein Zentimeter Haut mehr sichtbar ist unter den vielen Lagen Textil.
Bisher erschien mir die gelebte Kleiderordnung in der Türkei hauptsächlich eine Generationenfrage zu sein. Auf der Straße sah man es oft so: Die Oma trägt Kopftuch und Abaya, die Mutter ihre normale Straßenkleidung und eher selten ein Kopftuch und die Tochter hat lilablaue Haare, trägt Spaghettiträger Top und Minirock. Aber nicht in Konya, hier wird züchtig alles verhüllt.
Es ist nicht nur ein Gefühl: Konya ist die konservativste Großstadt der Türkei. Atatürk mit seinem distanzierten Verhältnis zur Religion ist hier kein Held, aber Erdogans AKP erfreut sich größter Beliebtheit, bei den Wahlen 2019 immer noch mit 65% Stimmenanteil im Stadtrat (im Vergleich dazu die drei größten türkischen Städte: Ankara 47%, Istanbul 45%, Izmir 38% - hier wurden die AKP-Bürgermeister von der liberaleren Konkurrenz abgelöst).
Passenderweise ist die berühmteste Sehenswürdigkeit von Konya dann auch eine muslimische Pilgerstätte – inoffiziell natürlich in einem immernoch laizistischen Staat, offiziell ist sie ein Museum, das Mausoleum von Mevlana Dschalal ad-Din Rumi, Gründer des Mevleviordens. Ersterer ist bei uns eher bekannt als persischer Dichter namens Rumi, letzterer eher als Orden der Derwische.
Zu Besuch bei Rumi
Das schauen wir uns natürlich an und es kommt ein wenig 1001-Nacht Flair auf im Rosengarten vor dem Ordenshaus mit den Derwischgräbern, bei denen alle Grabsteine kleine steinerne Turbane (bzw. Derwischkappen) tragen. Immerhin war Konya auch ein Teil der Seidenstraße, definitiv fühlt es sich hier deutlich morgenländischer an als an jedem anderen Ort, den wir in der Türkei bislang besucht haben. Wir besuchen Rumis Grab und sehen, wie die Pilger dort beten und im Nebenraum dann an einem Glaskasten schnuppern, darin ein hölzernes Kästchen. Warum das? Ich lese nach: in dem Kästchen sollen Schnurrbarthaare von Mohammed liegen.
Tanz der Derwische
Einmal in der Woche tanzen die Derwische auf dem Gelände des alten Ordenshauses und Besucher sind eingeladen zuzuschauen. Der Zufall will es nun, dass wir genau an diesem einen Tag in Konya sind und nicht weit vom Ordenshaus entfernt wohnen, also gehen wir am Abend hin. Es sind einige Besucher gekommen, touristisch fühlt es sich dennoch eher nicht an. Zum einen wird hier kein Eintritt verlangt, zum anderen wird der Zuschauer auch nicht begrüßt und es wird nichts moderiert oder erklärt. Damit hat die Darbietung weniger den Charakter einer Show als vielmehr den eines Gottesdienstes – und darum handelt es sich hier schließlich auch.
Die ganze, Sema genannte, Zeremonie besteht grob aus acht Teilen: einer Anrufung Mohammeds am Anfang, dann kommt ein Flötensolo auf der hauchigen Ney-Flöte, dann ein Vorspiel, schließlich geht der Tanz los. Die Derwische wirbeln insgesamt vier Mal zu Musik und Gesang, sie stellen sich in einer Reihe auf und schreiten langsam an ihrem Oberhaupt, dem Scheich, vorbei. Sobald sie ihn passiert haben, beginnen sie sich zu drehen, immer gegen den Uhrzeigersinn, immer mit dem gleichen Fuß, der den Takt vorgibt. Ihre vor der Brust verschränkten Arme wandern langsam über den Kopf, am Ende zeigt die geöffnete rechte Hand nach oben (hier wird Segen von Gott empfangen), die linke nach unten (hier wird er verteilt).

Jede Geste, jeder Schritt hat hier eine Bedeutung, dazu die Kleidung, der Hut, bei dem man immer befürchtet, dass er bei all den Drehungen und dem Stampfen noch vom Kopf fällt, dieser Hut symbolisiert zum Beispiel den Grabstein des Egos, der Mantel, der vor dem Wirbeln ausgezogen wird symbolisiert die Befreiung von allem Weltlichen. Vier Mal wirbeln die Derwische, wobei sie sich langsam zusätzlich im Kreis um einen Derwisch in der Mitte bewegen. Zwischendurch gibt es immer eine kurze Pause – wir hoffen sehr, dass niemandem schlecht oder schwindelig geworden ist – dann geht das Wirbeln wieder los. Natürlich hat jede der vier Wirbelungen auch wieder eine eigene Bedeutung, das führe ich jetzt nicht aus.
Ganz zum Schluss dann, nach etwa einer Stunde, gibt es noch eine Lesung aus dem Koran, dann ist die Sema beendet und man wird entlassen. Nicht dass wir viel von der Zeremonie verstanden hätten, als wir die Derwische wirbeln sahen. Aber die gesamte Veranstaltung hat etwas hypnotisches mit ihrer für unsere Ohren teilweise sehr schrägen Musik und diesen sich schier endlos drehenden weißgewandeten Herren, deren Röcke in regelmäßigen Wellenmustern noch oben fliegen.
Stadt ohne Touristen
Was gibt es sonst noch zu unserem Aufenthalt in Konya zu sagen? Vielleicht, dass es der erste Ort in der Türkei ist, an dem wir gefühlt die einzigen Ausländer weit und breit waren. Es gibt natürlich Besucher, aber die sind türkische Pilger an Rumis Grab. Es ist also alles schwerst authentisch hier. Wir erfreuen uns zusätzlich an der wirklich ganz ausgezeichneten Küche und unserem lächerlich günstigen und auch allgemein etwas lächerlichem Hotelzimmer – immerhin weiß ich jetzt, wie es ist, in einem runden Bett zu schlafen (ehrlich gesagt nicht so toll, man neigt dazu, zu zweit diagonal zueinander zu liegen und kommt sich dann mit den Füßen in die Quere). Und klar, den Whirlpool muss ich auch mal ausprobieren, wenn er schon da ist. Garnicht schlecht.
Kappadokien
Nach unserem Zwischenstopp in Konya bringt uns der Bus dann an unser eigentliches Ziel im Landesinneren: nach Kappadokien. Wir wohnen für etwa eine Woche in Göreme, einer kleinen Stadt, die im Zentrum dieser absonderlichen Landschaft mit ihren Klippen und Felsnadeln liegt.

Ursprünglich handelt es sich hier um eine Vulkanlandschaft, das Gestein ist erstarrte Lava und kompakte Asche – Tuffstein. Die Erosion arbeitet seitdem an diesem weichen Gestein, Wind, Regen, Flüsse und kleinere Erdbeben schleifen, waschen und rütteln die Landschaft durcheinander und erschaffen Pfeiler, Kamine und kleine Tuffstein-Hügel, die eine Zeitlang überdauern, bis sie wiederum von mehr Wind und Regen abgetragen werden. Oder von den Bewohnern der Region ausgehöhlt und umgestaltet.



Die Häuser Göremes sind jedenfalls eine wilde Mischung aus normalen Häusern und Wohnhöhlen, die in den Tuffstein gehauen wurden. Wir haben es ausprobiert: man kann den bröckeligen Stein bereits mit dem Fingernagel abkratzen – mit etwas Werkzeug hat man sicherlich in kürzester Zeit eine kleine Höhle in den Tuff getrieben. Diese Höhlenhäuser in den Tuffkegeln stehen kreuz und quer in der Stadt verteilt, auch an den Hängen hat man sich munter in den Fels gebohrt. Verständlich ist es ja, denn das Sommerklima hier ist anstrengend. Die Sonne brennt auf den hellen, reflektierenden Stein, es ist heiß und ausgesprochen trocken.
Wir wandern an mehreren Tagen durch diese merkwürdige Gegend, vorbei an Zwergenhöhlen in zipfelmützenartigen Felshügeln, quer durch erodierte Canyons, die jetzt im Sommer kein Wasser führen, streckenweise durch Sandwüsten, dann wieder hin zu Felslabyrinthen mit Gesteinsnadeln, die von den Kappadokiern hier „Feenkamine“ genannt werden. Hinein ins sogenannte „Love Valley“ mit seinen besonders suggestiven Formationen. Die, sagen wir einmal, turmartigen Gebilde bleiben so lange bestehen, wie die Kappe aus härterem Gestein, die sie tragen, erhalten bleibt. Fällt die Kappe, dann erodiert der weiche Tuffturm darunter recht schnell.
Das Laufen ist anstrengend und wir stellen fest, dass wir kaum genügend Wasser mit uns tragen können. Wir trinken literweise und haben dennoch die ganze Zeit Durst. An einem Tag trinken wir fast sechs Liter in vier Stunden. Doch die trockene Hitze scheint alle Flüssigkeit direkt wieder aus uns herauszuziehen.

Umso erleichterter sind wir, wenn wir hin und wieder im Schatten einer der vielen Höhlen eine Pause machen können. Gelegentlich ist die Höhle dann eben auch mal ein Grab, aber wir brauchen dringend Schatten, klettern hinein und ruhen uns eine Weile aus, bevor wir wieder durch die wüstenartige Landschaft ziehen.
Die früheren Bewohner haben aber nicht nur ihre Gräber in den Fels gehauen, es gibt auch unzählige Wohnhöhlen und überall kleine Kirchen und Kapellen aus byzantinischer Zeit. Angeblich sollen sich die Christen hier versteckt haben, als die Araber ab dem 8. Jahrhundert die Region bedrängten, aber auch schon vorher gab es immer wieder Gründe, sich in den Höhlen zu verkriechen. Kappadokien lag an der Seidenstraße und war ständigen Überfällen ausgesetzt.
Städte unter der Erde
Mehrere teils riesige unterirdische Städte wurden in der Region gefunden, bestehend aus hunderten von Tunneln und Kammern, die viele Stockwerke tief in den Fels gehauen worden waren und das vermutlich schon in vorchristlicher Zeit. Hier sollen sich die Phrygier und Lyder niedergelassen haben, die versteckten sich vielleicht vor den Medern und Persern, nach denen zog Alexander auf seinem Feldzug hier vorbei und als sein Großreich zerfiel, gab es in der Region fast nur noch Kriege und Unruhen zwischen seinen Nachfolgern in spe, bis dann schließlich die Römer vor der Tür standen.
Die Bewohner Kappadokiens gruben also munter kilometerlange vernetzte Tunnel, Wohn- und Arbeitshöhlen, sogar Viehställe, und konnten jederzeit von der Erdoberfläche verschwinden, hinter unscheinbaren Höhleneingängen an der Oberfläche. Und falls dieser Schutz nicht ausreichen sollte, hatten sie in vielen Gängen enorme Verschlusssteine platziert, die die wichtigsten Tunnel blockieren und die Bewohner dahinter schützen sollten.

Wir besuchen die unterirdische Stadt von Kaymakli und drücken uns durch die engen Gänge, die für deutlich kleinere Menschen gegraben worden sind. Acht Stockwerke tief geht es hier hinunter, fünf sind zugänglich und ausgeleuchtet, aber hin und wieder kann man in einen Seitentunnel abbiegen und das ursprüngliche Höhlengefühl bekommen: stockfinster, eng, staubig, kalt und bedrückend.
Hier sollen einmal mehr als 5000 Menschen gelebt haben, die mir nachträglich sehr leid tun. Eingeklemmt in engen Gängen zwischen großen Reisegruppen, die sich durch die Tunnel schieben, erhalten wir einen kleinen Einblick in das Lebensgefühl der Höhlenstadt. Ich bin sehr froh, als wir wieder ans Tageslicht hinauskommen.

Die Höhlenstädte mögen gruselig sein, aber die Landschaft Kappadokiens ist wirklich ganz zauberhaft. Besonders bei Sonnenauf- und -untergang, wenn der helle Tuffstein im Dämmerlicht rosafarben scheint, wenn die Hitze weicht und man abends im wahrsten Sinne des Wortes aus seiner Höhle kriechen und entspannt spazieren gehen kann zwischen diesen unwirklichen Gebilden. Einziger Wermutstropfen: das alkoholfreie Bier am Aussichtspunkt ist viel zu teuer. Ansonsten wäre der Augenblick auch zu perfekt.