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Willkommen im Chaos

Mit dem Bus geht es über die Landesgrenze zwischen Kambodscha und Vietnam, wo wir nach acht Stunden Fahrt etwas durchgerüttelt in Ho Chi Minh City, dem ehemaligen Saigon, ankommen. Damit sind wir direkt im wirtschaftlichen Herz Vietnams und in seiner größten Metropole. Und das merkt man auch.


Ho Chi Minh City


Unser erster Eindruck von Vietnam ist ein riesiges, nicht-enden-wollendes Verkehrschaos in der Innenstadt von Ho Chi Minh City. Wobei die Bezeichnung Chaos allerdings nur eine Zuschreibung meinerseits ist, für die Bewohner der Stadt ist es alltägliche Normalität, dass sich abertausende Motorroller, Autos und Busse unablässig durch die engen Straßen des Zentrums drängeln. Passen nicht alle Roller nebeneinander, dann wird an Engstellen und Hauptstraßen auch gerne auf den Gehweg gewechselt, jedenfalls dort, wo er noch nicht von anderen Rollern und Autos zugeparkt ist.



Die Vorstellung, auf einem Gehweg gehen zu wollen, entspringt eher dem Reich der Fantasie, selbstverständlich laufen die Fußgänger hier auf der Straße, denn der Gehweg ist Parkplatz, Freisitz für Garküchen und Cafés, Abstellfläche für alles, was nicht mehr in die engen, hohen Häuser passt. Es gibt kaum Ampeln, und wo es sie gibt, dienen sie eher als Vorschlag, hier ggf. etwas langsamer zu werden. Es halten vielleicht Autos und Reisebusse, die Roller jedoch fahren immer. Sie fahren über rote Ampeln, auf Gehwegen, auf der Gegenfahrbahn – für Roller gibt es keine Grenzen.


Nun passiert es bei einem Spaziergang durch die Stadt auch einmal, dass man eine Straße überqueren muss. Zunächst ist uns nicht ganz klar, wann das hier möglich sein soll, denn der Verkehr hält ja bekanntlich niemals an. Wir beobachten die Einheimischen und lernen: Will man auf die andere Straßenseite, und das gilt auch für 6-spurige Hauptstraßen, dann geht man einfach los. Auch wenn gerade 20 Roller, vier Autos und zwei Busse auf einen zurollen, man geht los. Man geht eher langsam, aber stetig, man bleibt nicht stehen und kehrt auf gar keinen Fall um. Die anderen Verkehrsteilnehmer rechnen sich die weitere Laufstrecke eines Fußgängers aus und umfahren ihn an allen Seiten. Daher darf man auch nicht stehen bleiben oder umdrehen – diese Aktionen werden von den Motorisierten nicht erwartet und sind daher potentielle Unfallverursacher.



Nach einem Monat in Vietnam haben wir uns – zumindest ein wenig – daran gewöhnt. Das Gefühl, einfach auf die Straße hinauszutreten, nicht nach rechts und links zu blicken, und einfach durch den tosenden, lärmenden Verkehr zu schreiten, kann etwas Erhabenes haben, man fühlt sich wie Moses, der das rote Meer teilt. Ein entsprechendes Gottvertrauen kann auch nicht schaden, denn zwischen hunderten hupender Autos und Roller mitten auf der Straße bekommt man auch oft Angst vor der eigenen Courage.


Kulturelle Annäherungsversuche


Die Thais waren entspannt und freundlich, die Kambodschaner bettelarm und verzweifelt und die Vietnamesen – die sind mitten im Daueraufbruch. Unser drittes Reiseland in Südostasien, und schon wieder ist alles völlig anders. Nach einem gemütlichen und einem ausgebremsten Land sind wir jetzt also in einer Nation gelandet, die den Fuß auf dem Gaspedal hat, im wahrsten Sinne des Wortes.


In Vietnam geht es immer voran, alle scheinen hier Ziele zu haben, die sie möglichst schnell und mit großer Durchsetzungskraft erreichen wollen. Da wird gehupt, geschubst und gedrängelt, die Menschen rasen durch die Stadt, keiner hat Zeit, alles muss schnell gehen. Wir sind erst einmal ziemlich überfordert mit alledem, versuchen, in unserem gemächlichen Tempo hier anzukommen und fühlen uns oft gehetzt und gestresst. Wir wollen das Land und HCMC (wie die Stadt hier oft abgekürzt wird) aber gerne kennen lernen und stürzen uns in Getümmel.


So streifen wir durch die Stadt und schauen uns den zentralen Markt an, wo man so ziemlich alles, was irgendwo keucht und fleucht, kaufen kann. Wir genehmigen uns einen unverfänglichen Fruchtshake an einem der vielen Stände und rätseln über das interessante Menü („worm-like jelly drink“? Heute mal nicht…).



Kaffeekultur


Vietnam ist auch bekannt für seine Kaffee-Tradition. Seit die Franzosen sich hier als Kolonialmacht niedergelassen hatten, gibt es in Vietnam nicht nur richtig leckeres Baguette (zum Frühstück gerne mit Pâté, Spiegelei, Chili und Koriander belegt), sondern auch an jeder Ecke Kaffee. Nur da man in Vietnam mit frischer Milch im tropisch-heißen Klima meist nicht weit kommt, wurde die Milch durch dicke, extrem süße Kondensmilch ersetzt. Auch der Kaffee selbst ist dickflüssig und schwarz wie Rohöl. Zu allem Überfluss wird die ohnehin schon süße Mischung dann noch zusätzlich gezuckert.


Das Ergebnis ist für uns leider ungenießbar. Daher sind wir froh, dass auch italienischer Kaffee zumindest in Ho Chi Minh City allenthalben gereicht wird. Am Lustigsten ist das Kaffeetrinken in einem der Café Apartments in der Innenstadt. Hier sind die Wohnungen eines mittelgroßen Wohnhauses umfunktioniert zu kleinen Cafés, Restaurants und Läden. Man läuft durch das Treppenhaus und die Flure und sucht sich sein bevorzugtes Lokal aus, wo man mit etwas Glück auf dem Balkon sitzen und seinen Häschen-Kaffee schlürfen kann.



Und noch mehr Kultur


Wir wollen ins Ho Chi Minh City Museum und landen fälschlicherweise erst einmal im Ho Chi Minh Museum, wo wir mit mäßigem Interesse durch ein Palais am Ufer des Mekong schlappen, das bis unters Dach mit Devotionalien, Fotos und Texten Ho Chi Minhs, des hochverehrten Revolutionsführers, vollgestopft ist, alles allerdings auf Vietnamesisch.


Am nächsten Tag schaffe ich es dafür in das richtige Stadtmuseum, während Lutz sich das Kriegsopfermuseum und den Wiedervereinigungspalast zu Gemüte führt. Ich habe nach den grauenvollen Folterbildern aus Phnom Penh erst einmal genug von Gewalt, aber die ist in Vietnam natürlich auch immer noch ein riesiges Thema, dank des Krieges der hier „der amerikanische Krieg“ genannt wird.


Der Wiedervereinigungspalast, früher Präsidialbüro Südvietnams
Alte Kathedrale und Post aus der Kolonialzeit
Endlich: das Ho Chi Minh Museum, früher Zollbüro

Egal, ich fliehe mich im historischen Museum zu Giacometti-artigen Buddhas und bemerkenswerten Skulpturen und bewundere die Paare, die in den historischen Räumlichkeiten des HCMC-Museums ihre Pre-Wedding Fotos machen – auch in Vietnam ist das ein riesiger Trend. Doch auch im Stadtmuseum stehen Kriegsflugzeuge und Kanonen im Garten und das ganze Areal ist von einem Bunker untertunnelt.



Auf ans Meer


Wie schon erwähnt, stresst uns Ho Chi Minh City ganz gehörig und wir wollen etwas mehr Ruhe am Meer finden. Wir fahren also an die Küste und erleben noch einmal eine Überraschung in Sachen Verkehrsmittel. In Vietnam sind sogenannte „Sleeper-Busse“ üblich für die langen Fahrten – und das auch, wenn diese tagsüber stattfinden. Diese Busse sind innen mit drei Reihen von Sitzen in der Form von Zahnarztliegen gefüllt, wobei jeweils zwei solcher Liegen übereinander angeordnet sind.



Man streckt sich in seiner S-förmigen Liege aus, die Füße verschwinden ein kleines Stück unter dem Kopfteil des Vordermanns und es ist eigentlich ganz gemütlich. So schaukelt man dann stundenlang über die relativ schlecht ausgebauten Straßen Vietnams. Die Distanzen sind zwar teilweise recht kurz, so liegen zwischen Ho Chi Minh City und unserem Ziel, Mui Ne, nur wenig mehr als 200 Kilometer, die Fahrt dauert allerdings ganze sechs Stunden.


Mui Ne – Strandurlaub ohne Strand


Das mit dem Entspannen am Strand hatten wir uns etwas anders vorgestellt – im Netz wurde Mui Ne als Destination für (Wind)Surfer und Badegäste angepriesen, dort angekommen erlebten wir die Küste hauptsächlich als Baustelle, wo riesige Kräne wenig ästhetische Betonklötze zur Küstensicherung in die Brandungszone hievten. Die Straße hinter dem Strand war dann wieder vielbefahren, laut und dreckig – ein klarer Fall für uns, unseren Aufenthalt nicht über die zunächst gebuchten zwei Nächte hinaus zu verlängern.



An einem Tag hakten wir die örtlichen Sehenswürdigkeiten im Schnelldurchlauf ab: zweimal Sanddüne und einmal kleiner Canyon mit roten Sandsteinfelsen. Check!



Immerhin konnte man sehr romantisch am Rande der Betonklötze sitzen und mit Blick auf die See zu Abend essen. Leckeres Seafood kam da auf den Teller, ich musste allerdings kapitulieren vor den fangfrischen gedämpften Sepien – ich war einfach nicht hart genug, die Tiere komplett am Stück zu verschlingen, mal wieder inklusive sämtlicher Innereien. Nach einem Testlauf musste ich die guten Stücke leider liegen lassen. Die örtliche Vorliebe, das meiste Getier in der Größenordnung unter 20 Zentimetern unausgenommen am Stück zu verzehren, teile ich nicht.



Jeder macht sein Ding


Es ist mal wieder soweit bei uns: Wir ziehen in zwei unterschiedliche Richtungen davon und wollen eine Handvoll Tage getrennt verbringen. Lutz zieht es auf die Insel Phu Qui, wo er sich Entspannung an einem richtigen Strand erhofft. Ich wiederum fahre weiter nach Norden in die Stadt Nha Trang, die das Tauchzentrum Vietnams sein soll.


Wir werden beide nicht zu 100 Prozent das finden, was wir suchen. Lutz wird auf seiner winzigen Insel als einziger Westler zur lokalen Attraktion und muss auf Schritt und Tritt den Einheimischen freundlich zuwinken und jeden unablässig grüßen, denn alle freuen sich so sehr, dass er nach der langen Corona-Flaute als Botschafter des wieder beginnenden Tourismus da ist. Ruhe und Entspannung findet er so kaum und da das kulinarische Angebot auch sehr begrenzt ist, isst und trinkt er so wenig, dass er sich rasch in einem recht schlechten Allgemeinzustand befindet, und von der Insel wieder auf das Festland flieht.


Ich kann in Nha Trang zwar tauchen gehen, muss aber herausfinden, dass die Regierung in der Covid-Zeit sämtliche Dive Spots bis auf einen einzigen gesperrt hat. An diesen einen Spot müssen nun alle zum Baden, Schnorcheln, Tauchen – am Morgen wird man mit einem großen Ausflugsschiff dort hinausgefahren, alle hüpfen ins Wasser, zwar versuchen die Tauchlehrer ihre Gruppen nach Können und Interessen etwas aufzuteilen, aber so richtig glücklich ist das Arrangement leider nicht. Zudem ist die Sicht ausgesprochen schlecht. Zwar gibt es einige bunte Fischlein und die ein- oder andere Koralle, aber man sieht sie meist erst, wenn man mit der Nase schon direkt davor hängt.





So hatte ich mir das Tauchen in den Tropen ja nicht vorgestellt! Ernüchtert kehre ich zurück nach Nha Trang, einer modernen Großstadt, die als Beach Resort am Reißbrett geplant wurde und weiß hier nicht allzu viel mit mir anzufangen. Nichts liegt also näher, als dass Lutz und ich uns bald wieder treffen und gemeinsam weiter reisen. Nur leider ist das nicht so einfach, denn ein Taifun hat sich auf den Weg quer durch den Pazifik in Richtung der vietnamesischen Küste begeben und sämtlicher öffentlicher Nahverkehr ist so lange unterbrochen, bis er durchgezogen ist.


Immerhin hat Nha Trang einen wirklich sehr schönen Strand

Ich lerne, dass sich ein Taifun, obgleich ich mir einen Wirbelsturm immer schwer dynamisch vorgestellt hatte, tatsächlich nur äußerst langsam vorwärts bewegt. Mit 20-40 km/h schleicht er auf Vietnam zu und alle warten auf sein Eintreffen und bereiten sich vor. Nach zwei Tagen Wartezeit hat der Taifun dann tatsächlich die Küste erreicht und zieht genau dort durchs Land, wo Lutz und ich uns treffen wollen: in Hoi An, einer der wenigen gut erhaltenen alten Städte in Zentralvietnam.



Aber nun, da der Taifun sich endlich durch das Land bewegt, können Lutz und ich uns auch auf die Reise machen. Beide besteigen wir den selben Nachtzug, Lutz ist als erster dran und einige Stunden später steige ich dann zu. Wir sind in verschiedenen Abteilen und Lutz hat das Glück ein paar nette deutsche Backpacker kennen zu lernen. Mich unterhält dafür ein älterer vietnamesischer Mitreisender in meinem 6er Schlafabteil die ganze Nacht mit lustigen Tier- und Tanzvideos auf voller Lautstärke am Handy.


Lutz - etwas nobleres - 4er Schlafabteil

Was bin ich froh, als Lutz und ich endlich in Hoi An ankommen und im schönen Zentrum dieser Stadt der Lampions wieder vereint sind.



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